Praxis und Forschung, Geschichte und Gegenwart vernetzen: Die Mobile Barock-Bühne

Martina Papiro
HOCHSCHULE FÜR MUSIK

Das Konzept der MBB ist klar und einfach, die Berücksichtigung aller Anforderungen weniger. Um die MBB zu realisieren, musste das Projektteam z. B. Merkmale historischer Bühnenbilder und die verfügbaren Räume an der Hochschule für Musik aufeinander abstimmen und manchmal gegeneinander abwägen. Jede Projektphase hat uns herausgefordert, denn es galt, definierte Kriterien (Geschichte <>  Gegenwart, forschungsbasierte Praxis) zu vermitteln, zu vernetzen und gleichzeitig zu priorisieren, um etwas Eigenständiges zu schaffen. Dieser Beitrag möchte die wichtigsten Fragestellungen und Herausforderungen des Projekts aufzeigen.

 

Historische Praxis und gegenwärtige Bedürfnisse

An der SCB besteht ein Fokus zum Musiktheater, doch auf dem Campus gibt es keine Theaterbühne.[1] Die Studierenden können daher keine Erfahrungen mit der Räumlichkeit und Visualität barocker Operntheater sammeln; sie erlernen die musikalische Praxis für das Musiktheater des 17.–18. Jahrhunderts, ohne die konkreten historischen Aufführungsbedingungen zu kennen. Dabei haben diese direkt Einfluss auf die Performance: Wo auf der Bühne konnten sich die Sänger:innen aufstellen, damit sie gut gesehen und gehört wurden? Wie betraten und verliessen sie die Bühne? Wie war ihr Verhältnis zum Publikum, dessen Raum meist ebenso hell beleuchtet war wie die Bühne? Wie konnten sie dramatische Momente der Handlung durch ihr Schauspiel und ihre Interaktion unterstützen? Welche Schauplätze kamen in der jeweiligen Oper vor und wie wurden diese durch Bühnenbilder, Requisiten und Kostüme vergegenwärtigt? Welche Rolle spielen diese für die dramatische Handlung, das Agieren der Charaktere und der Darsteller:innen und nicht zuletzt für das Publikum? Mit solchen Fragen muss man sich für die historisch informierte Aufführungspraxis auseinandersetzen.

So entstand die Idee zur MBB: Eine Art Probebühne für die Studierenden, in der sie Varianten erproben, Hypothesen verifizieren und nicht zuletzt auch Neues kreieren innerhalb «historischer» Bedingungen.

Um diese Idee zu realisieren, bot mir der Incubator for Design Cultures den geeigneten Rahmen. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit drei Studierenden des BA Innenarchitektur und Szenografie der HGK, Tanja Chumira Lüscher, Samia Graf und Fabienne Orsinger, welche die MBB entworfen und gebaut haben. Die Szenografin Elisa Danae Alessi und der Leiter des BA-Studiengangs Innenarchitektur und Szenografie Andreas Wenger haben sowohl das Mentorat für mein Projekt als auch die fachliche Betreuung der drei Studierenden übernommen. Ich habe mich als Projektleiterin um die Organisation, Durchführung und Administration des Projekts gekümmert, das Konzept erarbeitet und die Studierenden mit Inputs und Materialien zur historischen Szenografie unterstützt.

Für das Konzept der MBB galt es zunächst, charakteristische Merkmale barocker Opernbühnen aus dem Zeitraum von ca. 1650–1750 zu identifizieren, damit die MBB für ein möglichst breites Musiktheaterrepertoire nützlich ist. Da dieses Thema zu meinen Forschungsschwerpunkten gehört, waren die Hauptmerkmale rasch ausgewählt:

 

  • 1. Zentralperspektivisches Bühnenbild mit Kulissen
  • 2. Verwandlung auf offener Bühne
  • 3. Beleuchtung durch Leuchten an der Kulissenrückseite, Rampenlicht, ggf. Lüster

 

Diese Auswahl geschah im Bewusstsein, dass es sich um eine extreme Reduktion handelt. Auf weitere wichtige Merkmale mussten wir aus praktischen und finanziellen Gründen verzichten.[2]

Da die MBB keine Rekonstruktion einer besonderen Opernbühne, sondern eine exemplarische ‘Übersetzung’ ist, mussten die drei Merkmale zusätzlich abstrahiert werden. Mithilfe meiner Mentor:innen konnte ich die Informationen aus der Forschung im Hinblick auf die konkrete szenografische Umsetzung sortieren. Leitfrage dabei war: «Wie weit kann ein Merkmal abstrahiert werden und dennoch ‹barock› wirken?» Diese Frage hat letztlich das gesamte Team durchgehend beschäftigt. Wir mussten für jeden Parameter evaluieren, was sich umsetzen lässt und was nicht, und wo es Kompromisslösungen gibt.

Die andere Leitfrage betraf die Gestaltung der MBB als funktionales Werkzeug: «Wie kombinieren wir die ‹barocke› Struktur und Erscheinung der MBB mit den praktischen Anforderungen?» Damit die Studierenden sie auch wirklich nutzen, muss die MBB einfach zu bedienen sein, ohne Hilfe von Fachpersonen. Sie muss stabil und sicher, dabei aber auch handlich sein, der Auf- und Abbau muss in wenigen Minuten erfolgen, Reparatur oder Ersatz von Bestandteilen unkompliziert sein. Zudem soll die MBB einfach zu transportieren und in verschiedenen Räumen in und ausserhalb des Campus eingesetzt werden. Das sind lauter Kriterien, für die wir von historischen Gegebenheiten abweichen bzw. diese in unsere Gegenwart übersetzen mussten. Die konstruktiven Lösungen, die Tanja Chumira Lüscher, Samia Graf und Fabienne Orsinger entwickelt haben, sind den historischen im Wesentlichen ähnlich. Beispielsweise haben sie die Bauweise historischer Kulissen – ein Holzrahmen, vorne mit bemalter Leinwand bespannt und hinten Halterungen für die Leuchten – übertragen auf eine bedruckte Wabenkartonplatte mit einem Metallplättchen für die magnetische Halterung der Leuchte. Der historischen wie der modernen Variante ist die schlichte, funktionale Modularität, die Einheitlichkeit und das geringe Gewicht der Bauteile gemeinsam. Die modernen Kulissenelemente sind aber maximal kondensiert, denn sie sind beidseitig gleich gebaut, sodass jede Seite auch als Bildträger dient, und die komplexe historische Maschinerie für die Bühnenbildwechsel ist reduziert auf zwei schlichte Metallfüsse: Bei der MBB werden die leichten Kulissenelemente von Hand gewendet (wobei diese Hand-Arbeit wiederum den historischen Abläufen entspricht und das Konstruieren der Theaterillusion offenlegt).

Das Resultat dieser ersten Projektphase – der Prototyp 01 der MBB – wird weitestgehend allen genannten Anforderungen gerecht. Er besteht aus zehn beidseitig bedruckten Kartonplatten von je 240 cm Höhe Das aufgedruckte Bühnenbild ist auf diese Kartonplatten aufgeteilt, wobei je drei gestaffelt aufgestellt als seitliche Kulissen dienen, und vier in der Mitte nebeneinander aufgereiht den Rücksetzer und damit den hinteren Abschluss der Szenerie bilden.

 

Destillieren, übersetzen, verfremden

Eine der grössten Herausforderungen stellte die Gestaltung der Bildlichkeit dar, also, wie ein Bühnenbild der MBB ästhetisch beschaffen sein, wie es den gewünschten Schauplatz vergegenwärtigen sollte.

Für die erste Phase des Projekts, die den Bau eines Prototyps vorsieht, mussten wir die Anzahl Bühnenbilder begrenzen. Zwei mussten ausreichen, um die «barocke» Bildwirkung, den Ablauf für die Verwandlung und die Kombinierbarkeit der Bildelemente zu weiteren Bühnenbildern zu testen. Aus der Vielfalt der typischen Schauplätze in Barockopern suchte ich zwei der häufigsten heraus: ein Innenraum «Saal» und ein Aussenraum «Wald». Dies aus der Überlegung heraus, dass jedes einzelne an sich schon mehrdeutig bzw. multifunktional sein kann: Ein barocker «Saal» kann je nach dramatischem Kontext auch als «Galerie» oder als «Zimmer» gelesen werden, ein «Wald» für eine «Nachtszene» oder eine «Wildnis» dienen. Zudem verdichten «Saal» und «Wald» in sich die Merkmale von Innenarchitektur einerseits und Natur andererseits, sodass sie im Wechsel maximale Kontraste des Schauplatzes erzeugen. Nicht zuletzt kann man sie miteinander kombinieren und so verschiedene weitere Schauplätze erhalten, z. B. einen «Garten».

Die zusammengestellten Vorlagen – Bühnenbildentwürfe und -drucke der Barockzeit – waren aber für Tanja Chumira Lüscher, Samia Graf und Fabienne Orsinger nicht direkt umsetzbar. Sie mussten die wesentlichen Merkmale identifizieren, verdichten und vereinfachen, diese auf eigene Vorlagen anwenden und dann auf die Kulissenelemente der MBB skalieren, also wieder ein Übersetzungsprozess. Doch es zeigte sich, dass dies nicht ausreichte. Es brauchte eine zusätzliche Verfremdung, damit die neuen Bühnenbilder der MBB nicht wie eine unzulängliche Kopie wirkten. Nach verschiedenen Versuchen erwies sich die RGB-Punktrasterung als geeignetes Verfremdungsmittel. Damit schufen die drei Szenografinnen ihre eigenen «Saal» und «Wald» und erreichten für die Bildlichkeit der MBB die Balance zwischen erkennbarer Referenz auf ein barockes Bühnenbild und einer eigenständigen, ästhetisch überzeugenden Schöpfung. Die historische Distanz wird nicht mit modernen technischen Mitteln überblendet, sondern vielmehr sichtbar und bewusst offengehalten.

 

Experimentelles Spannungsfeld

Die hier präsentierten Fragestellungen und Arbeitsprozesse machen für mich das Wesen des Projekts und seiner Resultate aus: Das Hauptmerkmal der MBB besteht darin, dass sie Geschichte und Gegenwart, Forschung und Praxis produktiv vernetzt. Diese Eigenschaft einzurichten, zum Funktionieren zu bringen, war die grösste Herausforderung und sie birgt zugleich das grosse Potenzial der MBB. Vom Projektteam, den Nutzer:innen wie vom Publikum erfordert die MBB konstante Offenheit für Experimente, denn sie lädt dazu ein, andere Perspektiven einzunehmen, Möglichkeiten auszuloten zwischen Kopie, Interpretation und Neuschöpfung und animiert zur Reflexion über unsere Vorstellungen von Historizität: Was ist historisch? Was ist modern? Wo entferne ich mich vom historisch Gesicherten, warum und wie?

 

 Refrenzen

[1] Die Schola Cantorum Basiliensis ist ein Institut der Hochschule für Musik Basel / FHNW, spezialisiert auf das Musikrepertoire vom Mittelalter bis zur Romantik. Der Dozentin der Opernklasse, Deda Cristina Colonna, danke ich für ihre Kooperation und den Austausch. Sie hat das Projekt von Anfang an unterstützt, wertvolle Rückmeldungen gegeben und vor allem: Die MBB sofort in ihren Unterricht einbezogen. Ebenso danke ich Marianna Meyer, der Koordinatorin des IDC, für ihre kompetente Betreuung, sie hat dem Projekt mit entscheidenden Hinweisen zu Design, Struktur und Arbeitsweisen zur Realisierung verholfen.

[2] Nicht realisierbar waren beispielsweise der nach hinten aufsteigende Bühnenboden, die Theatermaschinerie, alle oberen Teile eines Bühnenbilds, das Bühnenportal und der Vorhang.