Die Organisation inklusiver gestalten: Am Anfang stehen die Menschen. Und am Ende auch.

Dorian Mittner
HOCHSCHULE FÜR ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE

Was macht eine Arbeitsorganisation aus? Ohne die Menschen, die ihren Raum mit Leben füllen, wäre fast jeder Betrieb nur ein kalter, leerer Klotz aus Beton und Glas. Eine Hochschule wird in erster Linie von den Menschen gestaltet, die dort studieren, forschen oder lehren – und den Menschen, die mehr oder weniger sichtbar dafür sorgen, dass all das möglich ist. Mit diesem Gestaltungsprozess, der ebenso wie die Menschen einem ständigen Wandel unterliegt, hat sich mein Projekt beschäftigt.

 

Der Ausgangspunkt war meine eigene Arbeitsorganisation, die Hochschule. Einige der Menschen, die hier studieren oder arbeiten, sind Frauen, manche lesbisch, intergeschlechtlich, nonbinär, trans, agender (FLINTA) oder leben eine von endlos vielen weiteren queeren Identitäten, Körperlichkeiten und Beziehungsformen. Auch sie gestalten die Organisation mit, sind aber in verschiedenen Bereichen des Lebens von Ausschluss, Benachteiligung oder Diskriminierung betroffen. Das beschränkt sich weder auf die Hochschule noch können FLINTA-Personen auf die oben genannten Merkmale reduziert werden. Deswegen habe ich mich in den vergangenen beiden Jahren auf vielen Ebenen gleichzeitig mit der Fragestellung beschäftigt, wie wir Organisationen noch vielfältiger, gerechter und inklusiver gestalten können.

 Ursprünglich wollte ich mich in meinem Projekt auf die physische und digitale Infrastruktur der Organisation konzentrieren. Mit meinem fachlichen Hintergrund in der Psychologie habe ich auf Anhieb Anknüpfungspunkte im Bereich UX-Design gesehen, wobei die voranschreitende Digitalisierung sowohl Möglichkeiten als auch Risiken birgt. So können beispielsweise virtuelle Umgebungen die Möglichkeit zum Perspektivwechsel und Experimentieren mit alternativen Identitäten bieten, aber auch zu Miss-Repräsentation oder Normierung führen, wodurch marginalisierte Gruppen (noch mehr) unsichtbar gemacht werden. Neben einem konstruktiv-kritischen Blick auf solche Prozesse war es mir wichtig, auch physische Aspekte einzubeziehen: Wie sind die Räume der Organisation gestaltet, werden körperliche Bedürfnisse (z. B. nach Ruhe und Erholung) berücksichtigt? Meine Teilnahme am ersten Durchgang des Incubator for Design Cultures hat mir hierfür wertvolle Kontakte und inspirierende Impulse mitgegeben und einen Rahmen geboten, in dem ich innovative Vermittlungsformate testen und neue Ausdrucksmittel ausprobieren konnte.

 

Eng mit meiner Teilnahme am Förderprogramm verbunden war ein Kooperationsprojekt der Berner Fachhochschule, PHBern und FHNW mit dem Ziel, Inklusion und Zugehörigkeit von LGBTIAQ+ Studierenden an der Hochschule zu fördern. Basierend auf einer Reihe von Fokusgruppen und Gesprächen mit Studierenden und Mitarbeitenden verschiedener Hochschulen haben wir Informationsmaterialien und Handlungsempfehlungen für Hochschulangehörige entwickelt, die anhand von Personas und Stories auf anschauliche Weise vermittelt werden. Die Ergebnisse sind unter bfh.ch/lgbtiaq-campus veröffentlicht.

 Im Rahmen eines Gastbeitrags im Lehrmodul «Vermitteln als Praxis» konnte ich ein spielerisches Format mit einer Gruppe von Studierenden erstmals testen und Feedback dazu einholen. Das Ziel war, verschiedene Aspekte von Geschlecht und Beziehungsformen in einer direkten Erfahrung zu vermitteln und kritisch zu reflektieren. Die Teilnehmenden formten dabei zunächst jeweils einen Körper aus Knete als Avatar. Anschliessend wiesen andere Teilnehmende jedem Avatar ein Geschlecht zu, wieder andere gaben ihm einen Namen. Dieses Vorgehen verdeutlicht die Fremdbestimmung von Geschlecht aufgrund körperlicher Merkmale bei der Geburt. Im anschliessenden Debriefing bemerkten einige Teilnehmende ihre eigenen unbewussten Vorurteile: So waren neben den rosa und hellblauen Karten zur Zuweisung eines Geschlechts die ganze Zeit auch gelbe Karten als dritte Option vorhanden gewesen. Diese wurden allerdings nicht explizit in der Instruktion erwähnt, und so haben sie viele offensichtlich gar nicht wahrgenommen. Diese Beobachtung macht deutlich, wie wichtig es ist, Intergeschlechtlichkeit als gleichwertige Möglichkeit der Geschlechtsentwicklung aufzuzeigen.

 

Die sexuelle und romantische Orientierung von jedem Avatar wurde in zwei separaten Durchgängen gewürfelt, was die relative Zufälligkeit und Unabhängigkeit der beiden Eigenschaften abbildet. Es war auch jederzeit erlaubt, erneut zu würfeln – schliesslich kann sich die sexuelle und romantische Orientierung über die Zeit durchaus verändern. Die Beziehungen (Freundschaft, erotische Anziehung, romantische Liebe) zwischen den Avataren wurden durch verschiedenfarbige Fäden symbolisiert, wobei die Teilnehmenden keine Regeln vorgegeben bekamen, sondern im Gespräch einen Konsens darüber finden sollten, für welche Beziehungsform ihre Avatare miteinander kompatibel waren. Die wahre Geschlechtsidentität der Avatare stellte sich jedoch oft erst in einer späteren Runde heraus, was unter anderem zu Namenswechseln und neuen Beziehungskonstellationen führen konnte.

 

Die Abschlussausstellung zum ersten Durchgang des Incubator for Design Cultures stand unter dem Titel «Kreise Ziehen». Und er beschreibt meine Entwicklung über diese zwei Jahre eigentlich ganz treffend: War ich anfangs davon ausgegangen, dass es die Menschen sind, nach denen die Organisation sich richten sollte, so bin ich am Ende zum Schluss gekommen, dass es auch an den Menschen ist, etwas zu verändern. Für meinen Beitrag zur Abschlussausstellung bin ich dann auch zu einem mir vertrauten Gestaltungsmittel zurückgekehrt: der Sprache. Dabei habe ich eine künstlerische Ausdrucksform verwendet, deren Umsetzung mir einiges abverlangt hat. Die audio-visuelle Installation «Wesen der Würde» war im Frühjahr 2024 in der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel zu sehen und/oder hören.

 

Und hier schliesst sich der Kreis: Nach zwei intensiven und veränderungsreichen Jahren bin ich, um viele Begegnungen und Eindrücke reicher, wieder ein Stückchen näher zu mir selbst gekommen. An dieser Stelle möchte ich mich bei all den Menschen bedanken, die mich in diesen beiden Jahren, und darüber hinaus, begleitet und meine unmöglich-geglaubten Ideen real gemacht haben.

 

Die Installation reflektiert das «Wesen der Würde» in Form von einem abgegrenzten Raum, der als Projektionsfläche für ein Gedicht dient. Das Versmass des Gedichts geht auf die antike griechische Lyrikerin Sappho zurück, die in ihrem nur zu einem kleinen Bruchteil erhaltenen Werk ihre Liebe zu Frauen thematisierte. Auf dem Boden in der Mitte der Installation liegt das Bild mit dem Titel «Was ist queere Kunst?» (Nahaufnahme einer Magnolienblüte, Druck auf Aluminium) von der Foto- und Videokünstlerin Anja Biolley (jazzie.ch). Nachdem das Bild im Frühjahr 2021 für einige Tage in einem Schaukasten im Aussenbereich eines renommierten Zürcher Kulturbetriebs ausgestellt war, wurde es durch die unsachgemässe Aufbewahrung in dessen Büroräumlichkeiten beschädigt. Als Teil der Installation steht das Bild für die Verletzlichkeit marginalisierter Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Vor weiteren Beschädigungen geschützt wird das Kunstwerk durch die Respektierung der unantastbaren Grenzen, die das «Wesen der Würde» den Betrachtenden setzt.

 

  • Wesen der Würde
  • Dorian Biolley
  •  
  • Sie ist ihr Pronomen, doch hat sie weder
  • Einen Namen, noch kennt sie ein Geschlecht nur
  • Überall ist sie, dennoch kann es uns manch
  • Mal an ihr fehlen.
  •  
  • Frei und unbegrenzt ist sie hier und jetzt da
  • Kein Ding, doch unabdingbar ist ihr Wesen
  • Weder kaufen kann man sie, noch besitzen
  • Und auch nicht stehlen.
  •  
  • Immerwährend im Werden begriffen, ist sie,
  • Wohnt sie jedem atmenden Wesen inne
  • Stetig überdauert sie selbst die Zeit, den
  • Tod und das Leben.
  •  
  • Alle haben sie, doch gehört sie niemand
  • Unschätzbar ihr Wert, schwerelos wiegt sie doch
  • Unermesslich, aufwiegen lässt sich sie nicht
  • Gegeneinander.
  •  
  • Nichts und niemand kann sie den Wesen nehmen
  • Wird sie auch mit Füssen getreten oftmals,
  • Ins Gesicht geschlagen und auch verletzt, so
  • Bleibt sie bestehen.
  •  
  • Unverortbar, unbegrenzt, unabdingbar,
  • Immerwährend, unschätzbar, unermesslich,
  • Unfassbar, unantastbar, ja, das ist das

 

 

  • Wesen der Würde.
  • Dignity’s Essence
  • Trans-creation: Kate Northrop
  •  
  • Pronouns make she/her sounds, but she has more than
  • One name, she has more than one gender, splendor
  • Even though she’s everywhere, we might sometimes
  • Miss her regardless.
  •  
  • Free she is, unlimited here and nowness
  • Not an object, essence is essential, always
  • Never bought or owned, can’t be sold and she can
  • Never be stolen.
  •  
  • Always being, always becoming, leading
  • She resides in every breathing being
  • Still outlasting steadily even time, the
  • Dead and the living.
  •  
  • Always there for us, she belongs to no one
  • Endless value, weightlessly weighing, staying
  • Weight too precious, infinite, can’t be balanced
  • Can’t be equated.
  •  
  • Nothing, no one takes her away from creatures
  • Even if she’s trampled on, blocked by cheaters
  • Even slighted, slapped in the face and broken,
  • She will be salvaged.
  •  
  • Always hidden, endless and vital, spiral
  • Lasting, priceless, measureless, baffling, dazzling
  • Formless, phantom, handsome and all of this is
  • Dignity’s essence.